Sonntag, Januar 09, 2011

Schildkröte

Zwei Augen, die nach Hilfe rufen. Tief im Abgrund gesperrt, eine kleine Maus versucht, sich von einem Schildkrötenpanzer zu befreien... Sie musste rein: das Leben war zu bedrohlich, sie musste sich schützen, alles um ihr schien zerstört zu werden. Und sie siegelte alle Türe und Fenster zu, bis sie sich sicher fühlte. Aber jetzt kann sie nicht mehr raus. Die Welt ist draußen geblieben, drinnen sitzt die kleine Maus im Dunkel, weg von allem und allen.. Nur die Angst ist auch mit ihr in ihrem Schildkrötenpanzer geblieben. Und sie merkt, dass sie raus gehen soll, aber wie? Wird sie jemals einen Ausweg finden?

Ja. Sie wird ihn finden.

Aber bis sie dieses kleine Fenster entdeckt, das sie in die Welt wieder bringen soll, ist die große Angst überall drinnen, die jede Gedanke, jeden Muskel, jede Bewegung kontrolliert, blockiert, vernichtet. Wird das Leben danach einfach sein? Wird das Leben wert sein? Und die kleine Maus bleibt da, paralysiert, auf eine unmögliche Rettung wartend, mit der Panik, die wie Meereswellen in den unerwartetsten Momenten kommt und geht, jede Möglichkeit eines neuen Anfangs erstickend.

Die kleine Maus würde ihr Leben am Liebsten wegschlafen, nicht mehr da sein... Weil egal, was sie versucht, alles bleibt wie vorher. Am liebsten würde sie aus diesem scheinbar ewigen Karussell aussteigen und hinunterspringen... aber wohin? Es gibt kein Oben und kein Unten, es gibt nur ein Schweben, aber das kann sie nicht sehen, die Angst hat alles verdunkelt. Wenn man ein Kind ist, und man im Dunkel erwacht und Angst hat, kann man nach Mama rufen, die bald kommt, das Licht anmacht und uns umarmt, und man kann wieder ruhig einschlafen, mit der Wärme der Umarmung im Herzen. Aber wenn man sich in einem Panzer eingesperrt hat, ruft man nach jemanden, aber wenn jemand kommt, man kann die diese Person weder sehen, noch hören, noch das Licht spüren, noch die Umarmungen fühlen... Alles ist, als ob es Millionen von Kilometern entfernt stattfinden würde. Und als man wieder allein im Zimmer sitzt, nichts scheint sich geändert zu haben, die Dunkelheit, die Einsamkeit, die Verzweiflung, der Panik, alles bleibt wie immer... Oder... vielleicht nicht ganz...

Eine Umarmung im Schnee. Eine Mandarine. Ein Lächeln. Ein Kopf in einer grünen Mütze in der Kälte Dezembers, der auf einer sicheren Schulter Ruhe finden kann. Ein warmer Tee mit Zimt in einer Plastikflasche. Kleine Schritte, die eine eingefrorene Hoffnung langsam auftauen. Kleine Momente, die uns wie ein Blitz eine Millisekunde Freude bereiten, die uns ein lächeln schenken, die sich schnell auflösen, aber die langsam einen Ausweg andeuten: sie sind ein Zeichen, dass es irgendwas draußen ist, das auf uns wartet... Aber dazu soll die kleine Maus am Panzer mit ihren scharfen Zähnen weiter beißen... Langsam... Nur nicht verzweifeln, schritt nach Schritt, nicht aufhören, es wieder zu versuchen...

Weil die Panikwellen immer wieder kommen werden, aber, auch wenn man es am Anfang nicht merken kann, sie werden mit der Zeit kleiner und kleiner werden, bis eines Tages das ruhige reine Meer die schöne Farben und Formen seines Tiefes wieder zeigen wird... Und wenn uns eine neue Welle wieder in die Dunkelheit schiebt, wir dürfen nicht vergessen, dass es irgendwann eine Funke zu sehen war, und dass die nächste Funke in jedem Moment erscheinen kann. Bloß nicht vergessen, dass wir das Panzer weiter abbeißen sollen, Stück nach Stück... Weil jede Sekunde entscheidend sein kann. Jede ungerettete Sekunde wird nur die Wunde vergrößern, die uns das ganze Leben begleiten wird. Und das auch werden wir akzeptieren müssen, und wir werden lernen müssen, mit der Wunde zu leben und aufzupassen, dass sie sich nicht wieder öffnet. Aber das ist nur der nächste Schritt...

Wenn sich eine neue Kindheit wünschen könnte! Eine Kindheit voll bunter Schmetterlinge, Lachen und Spiele, mit langen Wandertage in grünen Bergen, in denen den Pfad immer zu finden ist. Kann man es? Eines Tages wird es sein. Und es wird bald sein. An dem Tag, an dem die Umarmungen wie rote Klatschmohne blühen werden, kleine Zarte Umarmungen, die in ihrer Zerbrechlichkeit ihre Stärke finden werden...